DANTES DIÄT
Lesung und Gespräch mit Sergio Raimondi
Unter Mitwirkung von Timo Berger und Peter Holland

Datum: 11/02/2018

Uhrzeit: 20:00 h

Ort: Das Attico

Foto: Timo Berger

Mit seinem „kommentierten Wörterbuch“ schreibt Sergio Raimondi, der zu den wichtigsten lateinamerikanischen Dichtern gehört, seit Jahren an einem enzyklopädischen Weltgedicht, von dem Auszüge auch in deutscher Sprache publiziert wurden. (Berenberg, 2012) Das Interesse des 1968 geborenen Argentiniers für ungewöhnliche poetische Idiome geht jedoch bereits auf seine erste Gedichtsammlung, POESIA CIVIL, zurück, die nun in einer erweiterten Neuauflage bei Reinecke &Voss (2017) erschienen ist.

„Poesía civil“, das ist kein Relikt aus der Mottenkiste der engagierten Literatur, es ist ein längst vergessen geglaubter Ehrentitel für Gedichte, die Notiz nehmen von allem, was um sie herum geschieht und hinter ihren Rücken beschlossen wird, die sich über die Schwelle des eigenen Erfahrungshorizonts wagen, um mit ökologischen, soziologischen und gesellschaftlichen Realitäten Kontakt aufzunehmen. Fallstudien globaler wirtschaftlicher Zusammenhänge treffen in Raimondis Gedichten auf harte Arbeits- und Alltagsrealitäten, aus Konzepten und Paradigmen politischer und ökonomischer Systeme gewinnt er Allegorien des Poetischen. Wenn er die romantische Poesie einer kapitalismuskritischen Lektüre unterzieht oder einen technischen Herstellungsprozess mit allen Details wiedergibt, hat dieser Dichter etwas von einem realistischen Phantasten, dem kein Gegenstand zu sachlich ist, um nicht auch ein sinnliches Potential daraus zu schlagen.

So ist in Raimondis Gedichten dem „Meer als Fanggrund“ ebenso zu begegnen wie dem „Klempner“ überkommener „ästhetischer Postulate“, der tollkühnen Grille, die vom Gesang nichts wissen will ebenso wie toxischen Transzedenzerlebnissen. „Ist der Dichter schon wach oder schläft er noch?“ Wie macht sich die „Abnahme roter Blutkörperchen“ in den Bilanzen der Dichtkunst bemerkbar? Engagiertheit scheint für diesen Dichter auch ein Synonym für strukturelle Verstrickung und dichterisches Denken erweist sich als höchste Bürgerpflicht – unter Verzicht auf Berichterstattung von den Krisenherden des eigenen Ich.

Noch lieber als in den Verästelungen globaler Geographie bewegt sich Raimondi übrigens in den Kellern des kollektiven Gedächtnisses von Bahía Blanca, seiner zwischen Pampa und Meer im östlichen Landesteil gelegenen Heimatstadt. Hier, wo Politik gemacht und Poesie geschrieben wird, tradiert und erinnert, gelebt oder „einen ganz privaten Tod“ gestorben, findet Raimondi Welt genug, um ein Dichterleben zu füllen. So ist es nicht weniger als ein Ereignis, wenn er der Hafenmetropole nun den Rücken kehrt, um ein DAAD-Stipendium in Berlin anzutreten: Im Attico widmen wir dem soeben angereisten Autor zusammen mit seinem Übersetzer Timo Berger sowie seinem Verleger Peter Holland einen zweisprachigen, deutsch-argentinischen Abend. „Noch sind die Werkzeuge nicht fertig“, aber: „Die Zukunft existiert“.

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Dantes Diät

Die Diätetik müsste sich fragen, wie ein Dichter,

dessen ganze Ernährung auf Eiern beruht

(der Legende nach mit einer Prise Salz),

während so langer Zeit derart viele fein austarierte

Verse produzieren kann. Die geschlossene Struktur

des Werks mag ihm zweifellos ein Ansporn sein:

Es geht nicht darum, sich dem Nichts zu nähern (oder

doch, nur ist dieses Nichts darin genauso angelegt).

Vielleicht müsste man das Verhältnis zwischen

dem Energiegehalt und dem Volumen mitbedenken,

das diesem Nahrungsmittel, wenn man es mit Fleisch

vergleicht, einen Vorteil verschafft. Die Wissbegierigen

müssten sich also scheinbar abwegigen Fragen stellen

und sich eine Zeit lang der Analyse der Verse widmen,

um den Schub zu erkennen, den jede Terzine

gemäß dem Stufenaufbau einer Rakete erzeugt

und auf die folgende abfeuert, worauf einst ein Russe

aufmerksam machte; das nur zur Anregung,

denn ein Ei, das ist hinlänglich bekannt,

enthält den Keim eines neuen Lebewesens und

die Stoffe, von denen es sich ernährt. Allerdings sind

die meisten dieser Wesen für gewöhnlich Vögel.

(Übersetzung: Timo Berger)

*

La dieta de Dante

La dietética debería preguntarse cómo un poeta

que basaba toda su alimentación en el huevo

(con una pizca de sal, según cuenta la fábula)

produjo tal cantidad de versos en forma regular

durante un tiempo considerable. La estructura

cerrada de la obra sin dudas fue un aliciente:

no se trataba de avanzar hacia la nada (o si,

pero en todo caso la nada también había sido

prevista). Tal vez habría que tener en cuenta

la relación entre contenido energético y volumen

que favorece a este alimento si se lo compara,

per ejemplo, con la carne. En fin, los estudiosos

deberían entrar en cuestiones al parecer ajenas

y dedicarse por un tiempo al análisis de los versos

para corroborar, come un ruso señaló alguna vez,

el impulso con el que cada terceto presupone

y dispara al que le sigue según el modelo de fases

de un cohete espacial; es sólo una sugerencia,

pero la célula del huevo, es más que conocido,

contiene el germen de un nuevo ser y las sustancias

de las cuales se podría nutrir. Por otra parte,

un gran porcentaje de esos seres suelen ser aves.

*

Sergio Raimondi (*1968 in Bahía Blanca) ist Schriftsteller und Dozent für zeitgenössische Literatur an der Universidad Nacional del Sur. Er war Mitglied der Dichtergruppe Mateístas, die in den 1980er und -90er Jahren ihre und andere Gedichte verbreitete, indem sie diese in den Straßen von Bahía Blanca an die Wände schrieb. Nach seinem literaturwissenschaftlichen Studium wurde er am Hafenmuseum in Ingeniero White tätig und engagierte sich mehrere Jahre in der Kulturpolitik. Weiterer Titel in deutscher Übersetzung: Für ein kommentiertes Wörterbuch (Berenberg, 2012). 2018 ist er Gast des Berliner Künstlerprogramms. (DAAD)

Timo Berger (*1974 in Stuttgart) ist Autor und Übersetzer zeitgenössischer lateinamerikanischer Literatur. Er lebt als freier Journalist, Herausgeber und Kurator in Berlin. Zusammen mit Rike Bolte gründete er 2006 das lateinamerikanische Poesiefestival „Latinale“. Zuletzt erschien seine Übersetzung des Romans “Kryptozän” von Pola Oloixarac (Wagenbach, 2016) sowie die Übertragung einer Lyrikauswahl von Luis Chaves unter dem Titel „Während ich aus den Minusgraden zurückkehre und eine beiläufige Bemerkung vortäusche“ (Schiler, 2017). Mit Sergio Raimondi verbindet ihn eine langjährige Freundschaft und übersetzerische Zusammenarbeit.

Peter Holland (*1982 in Tübingen) lebt als Verleger, freier Lektor und Literaturvermittler in Berlin. Organisator von Lesungen, Verlagspräsentationen, Ausstellungen und Buchbinde-Werkstätten.

4. Stock, Fahrstuhl auf Anfrage

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„die Dichtung, eine äußerst heikle Angelegenheit“, S. Raimondi