Nach Walkmännin (1990), Brauwolke (1994), Falsches Futter (1997) und Erdkunde (2002) legt Marcel Beyer mit Graphit im kommenden Herbst seinen mittlerweile fünften Gedichtband vor. Hat man die registerreichen poetischen Soziotope aus Falsches Futter, größtenteils im Wien der 1990er Jahre angesiedelt, noch in deutlicher Erinnerung, wird auch in Beyers neuer Gedichtsammlung die Gegenwart über Splitter und Spurenelemente auf eine Vergangenheit hin abgetastet, die als eine im wahrsten Sinn des Wortes „gelebte Rede“ durchscheint. Dabei heftet sich Marcel Beyers Gang durch das 20. Jahrhundert an signifikante Episoden und markante Figuren (Ezra Pound, Georg Trakl, Wolfgang Hilbig…) ebenso wie an scheinbar unbedeutende historische Nebenschauplätze und läßt doch jede Gefahr des suggestiven Biographismus hinter sich. Vor diesem Hintergrund fällt die sehr persönliche Gestimmtheit dieser retrospektiven Panoramen umso mehr ins Gewicht, die eine wie immer geartete Wahrheit des Aufgezeichneten bewußt dem subjektiven Korrektiv der poetischen Selbstbefragung unterstellt. Freilich weiß Beyer um die Fiktion des Faktischen (die Geschichten in der Geschichte) ebenso wie um die Faktizität, die jeder Fiktion eingeschrieben ist (die Geschichte in den Geschichten). Das erklärt vielleicht den unverwandt einsetzenden, aus vielen Mündern artikulierten und in einer Weite jenseits der Zeilen verklingenden Tonfall der Gedichte, der im Suchen und Sinnen mehr zuhause ist denn im Finden und Trachten und selbst im lose verketteten Gefüge zusammengetragener Vermutungen eine beeindruckende Balance zu halten vermag. So gelingt es Marcel Beyer einmal mehr, über das Gedächtnis der Sprache (siehe Thomas Klings „Sprachspeicher“, dem M.B. verpflichtet ist) das sprachliche Unterbewußte einer Gemeinschaft zu berühren und Zeitgeschichte transversal über die Einspielung zeitgebundener Rede zu verzeichnen.
Im Westen, auf dem Platz
Wir kommen her, ich seh genau
die Wiese vor mir, die ich kannte,
alles wie angemalt: der Teer,
das Alutor, die Pfosten. Keiner
mehr da. Man lebt lackiert. Und dort
die Schwarzamsel ist angekokelt.
Kein halber Tag, kein ganzer Satz,
kein Fußball in der Luft. Du wanderst
vom Kirchberg Richtung Bettikum,
du siehst den Westen, und ich bohre
die Schuhspitze ins Grün. Doch wann
wuchs ich hier auf? Sag mal, wann krachte
es? Die Flutlichtanlage. Nun
brennt mein Schädel, die Augen gehen an.
(Aus: Graphit)
© Frank Höhler
Marcel Beyer, 1965 in Tailfingen (Baden-Württemberg) geboren, lebt seit 1996 in Dresden. In Kiel und Neuss aufgewachsen, schloß Beyer sein Germanistik- und Anglistikstudium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker ab. Seit 1989 war er als Herausgeber und Lektor („Konzepte“) tätig; von 1992 bis 1998 schrieb er Beiträge für die Musikzeitschrift Spex. Zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin (2008) und als Gast der Villa Massimo (2010). Seit 1990 erschienen Marcel Beyers Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays, z.B. der Roman Flughunde (Suhrkamp, 1995), der Gedichtband Falsches Futter (Suhrkamp, 1997), der Roman Spione (DuMont, 2000), der Gedichtband Erdkunde (DuMont, 2002) sowie der Dresden-Roman Kaltenburg (Suhrkamp, 2008). Daneben machte Beyer als Essayist (Nonfiction; DuMont, 2010) und Erzähler sowie mit Zwischenformen (Putins Briefkasten; Suhrkamp, 2012) auf sich aufmerksam. Beyer ist Herausgeber der Gedichte und Prosa von Friederike Mayröcker (mit der er verschiedentlich auch zusammenarbeitete), Übersetzer (Gertrude Stein, Michael Hofmann u.a.) sowie Verfasser mehrerer Opernlibretti (z.B. IQ, zusammen mit Enno Poppe, 2012). Zur Zeit Arbeit an einem Musiktheaterstück zu Karl May für die Dresdner Semperoper, das am 20. Juni 2014 uraufgeführt wird. Seinen Roman Flughunde adaptierte Iris Drögenkamp 2013 als Hörspielfassung für den SWR2, ebenfalls 2013 wurde der Roman von Ulli Lust in eine Graphic Novel übersetzt. (Suhrkamp, 2013). Im Herbst 2014 erscheint bei Suhrkamp der Band Graphit.