Der Ort
Das „Attico“ ist im obersten Stockwerk des „Camaro-Hauses“ untergebracht, einem offenen Kulturzentrum, das auf fünf Etagen mit Ausstellungen, Tagungen und anderen Veranstaltungen das Erbe der Berliner Künstler Alexander Camaro (1901-1992) und Renata Camaro (1934-2009) wachhält. Das historische Backsteingebäude gehört zu einem größeren Ensemble, dem „Kunstpalais“ in der Potsdamer Straße 98. Im späten 19. Jahrhundert war darin das Victoria-Lyceum untergebracht, erbaut vom gleichnamigen Verein gemeinsam mit dem Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin (1892/1893). Darüber hinaus war es Standort einer Klavierfabrik sowie lebendiges Zentrum der Frauenbewegung um Alice Salomon.
Am 13. 1. 1867 gründeten hier die Künstlerinnen Klara Heinke, Klara Oenike, Rosa Petzel und Marie Remy den ersten Künstlerinnenverein in Berlin (VKKB), auf dessen Initiative auch die Errichtung des Hofhauses (heutiges Camarohaus) zurückgeht, das am 15. Oktober 1893 eröffnet wurde und in dem der Verein Mal- und Zeichenunterricht erteilen ließ. Auch die junge Käthe Kollwitz sowie Paula Modersohn-Becker gehörte zu den Schülerinnen; Lehrkräfte waren u.a. Antonie Eichler, Margarete Hönerbach und Hildegard Lehnert. In der NS Zeit ab 1936 wurde der ganze Gebäudekomplex sowie die darin ansässigen Firmenbestände (Klavierfabrik) enteignet und fielen der Arisierung zum Opfer.
Den genius loci von Tiergarten Süd prägten in der Vergangenheit noch viele andere bedeutende Persönlichkeiten. August Wilhelm Iffland, Walter Grimm, Adelbert von Chamisso und Theodor Fontane waren in dem kulturell aufgeblühten Viertel zugange. Stark frequentiert waren auch die literarischen Salons und Buchhandlungen der Gegend; Walter Benjamin wohnte in der nahen Kurfürstenstraße und der Märchenarchivar Jacob Grimm in der Nähe des Potsdamer Platzes. Die ehemalige Verlagsbuchhandlung Struppe & Winkler (damals 106, heute 103, ein gleichnamiges Café beherbergend) veranstaltete Lesungen, an denen u.a. Thomas Mann beteiligt war. Das Palais Wintergarten in der Potsdamer Str. 96 – hervorgegangen aus dem Quartier Latin der 70er – liegt direkt neben dem Kunstpalais. Literarische Institutionen wie „Die Neue Rundschau“, als deren Lektor Peter Suhrkamp verantwortlich zeichnete, hatten ihren Sitz in der Bülowstraße; die Galeristen- und Verlegerbrüder Paul und Bruno Cassirer, durch die ein Berliner Publikum erstmals mit den französischen Impressionisten bekannt wurde sowie der Publizist und Galerist Herwarth Walden, Herausgeber des Sturm und Verleger des Verlags „Der Sturm“ arbeiteten in der näheren Umgebung. war ebenfalls in der Potsdamer Straße ansässig. Auch die berühmte Sturm-Ausstellung oder in der Potsdamer Straße selbst. Die Ausstellung „Der Blaue Reiter“ ging auf Waldens Initiative zurück (1912); 1913 folgte der „Erste Deutsche Herbstsalon mit expressionistischen, futuristischen, kubistischen Werken von Henri Rousseau, Oskar Kokoschka, Hans Arp, Marc Chagall, Max Ernst, Piet Mondrian und vielen anderen. Schräg gegenüber dem Kunstpalais, in der Potsdamer Straße 115a, lebte Josef Roth für ein halbes Jahr – die Josef Roth-Diele in der Potsdamer Straße 75 erinnert daran. Auf Marlene Dietrichs Haus in der Potsdamer Straße 116 (damals 45) ist ein Gedenkschild angebracht.
Heute existieren viele der einstigen Gebäude nicht mehr, wurden im Zuge der Planungen Albert Speers zu einem großen Teil abgerissen oder demoliert. Nach dem Mauerbau vor allem für ihr Rotlichtmilieu bekannt und schließlich auch insgesamt spannendes Soziotop des Westberliner Nachtlebens, gilt die Potsdamer Straße seit der beginnenden Moderne auch als „Medienstraße“. Unweit vom neuen Kulturforum mit Philharmonie, Staatsbibliothek, Neuer Nationalgalerie usf. gelegen, beherbergte sie neben vielen anderen Zeitschriften und Zeitungen von 1954-2009 das historische Gebäude des „Tagesspiegel“, in dem heute Galerien und Geschäfte untergebracht sind. Peter Suhrkamp rief, als ehemaliger Fischer-Lektor, in der gegenüberliegenden Lützowstraße Nr. 89/90 den Suhrkamp-Verlag ins Leben. 1964 wurde im Hinterhaus der Potsdamer Straße 98 der renommierte Rotbuch-Verlag gegründet. Der Verlagsredaktion gehörten die Brüder Friedrich Christian und Eberhard Delius, Klaus Wagenbach sowie Anne Duden und Ingrid Karsunke an. Zu den Autoren gehörten u.a. Thomas Brasch, Heiner Müller und Helga M. Novak. Heute ist das Backsteingebäude Sitz der Alexander Camaro Stiftung, der Schriftdruckpapiergalerie Erik Spiekermann, einer Sprachschule, eines Yoga-Instituts sowie Arbeitsstätte des Gestalters Peter Lippert. Im 5. und obersten Stock befindet sich, unter dem Dach und außer Konkurrenz, seit einigen Jahren das „Attico“.