Paulus Böhmers überbordende Langgedichte werfen stets die Frage nach dem roten Faden auf, nach dem Anfang des Knäuels, von dem her das Ganze zu packen oder zu begreifen wäre. Diese Suche nach dem roten Faden stellt sich jedoch alsbald als der Beginn einer noch viel größeren Verstrickung heraus.
Bereits der vorangegangene Titel Am Meer. Am Land. Bei mir, an den Zum Wasser will alles. Wasser will weg anschließt, hatte eine weg-weisende Trennung der Erde in drei große Kontinente vollzogen: Wasser, Land und Bewusstsein. Mit dem zuletzt erschienenen Großgedicht hat dieses inklusive, um nicht zu sagen ozeanische Bewusstsein endgültig das Ruder übernommen, um, nur mit dem Kompaß der poetischen Rede ausgestattet, durch den Wellengang der Zeiten und Gezeiten zu navigieren. Dabei begegnet das sprachtrunkene Ich bald der eigenen Biographie, bald den Verwerfungen der Geschichte, durchstreift „die polymorphen Pfade des Eros“ ebenso wie die Untiefen des kollektiven Gedächtnisses. Denn das Exemplarische und Objektive ist Böhmers Sache nicht, lieber hält er sich an die Details oder sucht die Realität in ihren Spuren auf, denen er keineswegs traut: Wer nach mehr Anschaulichkeit verlangt, bekommt mehr Sprache, und wer von einer selbstzweckartigen Sprachdynamik ausgeht, wird durch aufrüttelnde Zeugnisse tatsächlicher Verbrechen bald eines Besseren belehrt.
So reihen sich Paulus Böhmers gleichsam dreidimensionale, in kein Schema zu pressende Bücher seit nunmehr 50 Jahren wild und wuchernd aneinander. Mit ihren Aufzählungen, Engführungen, Epiphanien und Refrains, ihrem rhythmischen Wechsel vom leisen Singsang zur rauschhaften Klage beschwören sie den Klangkörper eines Jahrhunderts als Chor von Gleichzeitigkeiten.
In die beunruhigende Formel, „dass die Wortwörtlichkeit der Sprache alles ist, was wir haben, und dass wir uns dagegen wehren müssen / mit allem, was wir haben“ hat Paulus Böhmer eine ganze künstlerische Ethik gelegt. Sie lässt ihn das Ringen um den Weltbezug der Sprache mit Herzblut und Ernst betreiben, aber auch der Freiheit des Spiels und der unübertroffenen Gestaltungskraft des Traums zu ihrem Recht verhelfen.
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Am Anfang ließ Gott eine Scheidewand inmitten der Wasser
entstehen und schied so die Wasser unterhalb des Gewölbes
von den Wassern oberhalb des Gewölbes,
ließ dazu etwas Trockenes entstehen:
das war die Erde und das andere war das Meer – so verhindere Gott
schon zum Schöpfungsbeginn naseweise Kritiken
an seiner bereits eingeschlagenen Route: Gut und Böse undialektisch und
unauflöslich miteinander zu verpappen, im In-, im Aus-, im Umeinander
zu verklumpen, jedes Prinzip erst durch sein Gegenteil möglich.
So viel zur Entstehung des Brotneids, der Stänkerei, Zänkerei,
der Begehrnisse, Wollungen, Morde.
So kommt es, dass Oleg Jurjew „Gedichte schreibt, um zu erfahren,
wovon ich handle“,
dass Lothar Matthäus lernen muss, alleine zu leben,
und dass Gedichte noch viel schöner sind, als sie sind.
(Aus: Zum Wasser will alles. Wasser will weg, Peter Engstler, 2014)
Foto: Wolfgang Becker
Paulus Böhmer, 1936 in Berlin geboren, studierte Jura, Architektur und Germanistik, arbeitete u.a. als Stauden- und Ziergraszüchter, Reizwarenlieferant, Lektor und Werbetexter, von 1985 – 2001 leitete er das Hessische Literaturbüro in Frankfurt a.M. und war auch als Maler tätig. 2015 für sein letztes Versepos Zum Wasser will alles. Wasser will weg (Peter Engstler, 2014) mit dem Peter Huchel Preis ausgezeichnet, ist er ein Solitär der deutschsprachigen Literaturlandschaft. Weitere Publikationen von Paulus Böhmer: Wer ich bin (Edition Faust, 2014); Am Meer. An Land. Bei mir (Peter Engster, 2010) sowie die zwischen 2006 und 2011 erschienenen Kaddish-Bände (Schöffling Verlag). Monika Rinck schreibt über Böhmers Langgedichte: „Diese Gedichte sind mittig gesetzte flackernde Säulen, hoch rhythmische Bilderströme, die aus der ganzen Summe des Menschlichen, was das Unmenschliche mit einschließt, hervortreten. Hier sind es wieder die Erinnerung an die Shoa, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Weiterleben, die Entfernung, die Nähe, die um Vorherrschaft ringende Gleichzeitigkeit, die im Gedächtnis herrscht, die das Schreiben in eine Heftigkeit versetzen – wie soll man damit aufhören, wenn man nie sagen kann: Es ist gut. Weil es eben nicht gut ist.” Paulus Böhmer, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, lebt in Frankfurt am Main.
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„So, wie zuweilen Zaunkönige / ihr Nest bauen im Kopf eines Menschen, einfach so.” Paulus Böhmer