DIE LEIDENSCHAFT ZUR SPRACHE BRINGEN
Ein Neujahrs-Tag für Pier Paolo Pasolini

Datum: 01/01/2016

Uhrzeit: 17:30 h

Foto: Giovanni Giovannetti/effigie

 

Mit: Annamaria Cattaneo, Faber Donoughe, Florian Neuner, Christian Filips, Roberto Galaverni, Ulrike Gerhardt, Alexander Heinich, Orsolya Kalász, Annette Kopetzki, Valerio Magrelli, Elisabetta Mengaldo, Monika Rinck, Ursula Tax und Andreas Wassermann

Filmbeiträge von Manai tu turi teises? / Don’t believe you have rights (Agnė Bagdžiūnaitė / Noah Brehmer), Reinhold Jaretzky („PASOLINI“) und anderen

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Der Zwiespalt besteht, solange der Zwiespältige lebt, heißt es in einem der römischen Gedichte Pier Paolo Pasolinis. Nun liegt sein gewaltsamer Tod über 40 Jahre zurück und sein Zwiespalt ist zu unserem Zwiespalt geworden – zum Glück.

Dichter und Filmemacher, Soziologe und Ethnograph, Mystiker und Marxist, ausgebildeter Pädagoge und unermüdlich Lernender, strahlte Pasolini eine Intensität in alle erdenklichen Richtungen aus. Wo ihr eigentlicher Brennpunkt lag, wurde vielfach hinterfragt und war doch womöglich nur ein Umgehen der Frage. Immer noch läßt dieser Autor, für Thomas Brasch einer der wenigen, die „Erfahrung und gleichzeitig poetische Höhe haben“, seine glühendsten Bewunderer auflaufen und seine Kritiker ratlos zurück. Aber seine Wut war nicht blind und seine Empörung war, wie er selbst nicht müde wurde zu betonen, die Empörung eines Empörten. Eine Art von Notwehr also, hinter der sich ein ethischer und ästhetischer Imperativ verbarg. Am untrüglichsten aber war sein Instinkt.

Pasolini hat vorgeführt, wie viele Dinge zusammengehen können in einem Menschen und wie sie zusammengehen können zum gelebten Zwiespalt und Widerspruch: Er war politisch und persönlich, aufmerksam und egoman, mediengewandt und von den Medien gejagt, mittendrin und am äußersten Rand. Er konnte manchmal die Seiten wechseln oder überraschend danebengreifen; nur darüberstehen, darüber stehen wollte er nie! Den Kennern und Könnern zog er die Liebhaber vor; in den Liebhabern erkannte er Gleichgesinnte. Bestechlich durch Schönheit und süchtig nach einer Intimität, die ihm doch nie genügte, formulierte er Erkenntnisse als Bekenntnisse und entdeckte bleibende Wahrheiten im flüchtigen Handeln der Körper: Ich bin rational gewesen und ich bin / irrational gewesen: beides bis auf den Grund.

Wie Primo Levi Schriftsteller und Zeuge in einem, trieb Pasolini seine Zeugenschaft bis zur Selbstentblößung. So war die mitreißende Dringlichkeit, ja Rauschhaftigkeit seiner Entscheidungen, Mahnungen und Einmischungen am Ende vielleicht nur eine andere Manifestation seiner Dünnhäutigkeit. Schmerzhaft durchquert von seiner Zeit und zu ihr querstehend, hat er unumwunden die Frage nach einer übergeordneten Bedeutung des Daseins gestellt und ist zugleich einer der wenigen, deren außergewöhnliche Lebensleistung man ohne zu zögern anerkennt. Diese Beispielhaftigkeit seiner Existenz ist eine mögliche Erklärung für die pseudoreligiöse, fast ikonische Verehrung, die Pier Paolo Pasolini heute vielfach entgegengebracht wird. Und doch wäre es allzu einfach, sich mittels Heiligsprechung einer Diskrepanz zu entledigen, die sein intellektuelles und literarisches Erbe nach wie vor aufwirft.

Am 1. 1. 2016, wenn das neue Jahr noch nicht ganz zu sich gekommen und das alte, in dem sich Pasolinis Todestag zum 40. Mal jährte, in erschreckender Selbstverständlichkeit verstrichen ist, wollen wir uns gegen den drohenden Kater mit einer PASOLINIADE zur Wehr setzen. Wollen noch einmal anstoßen und etwas anzetteln, damit an die Stelle des Erinnern-Müssens wieder das Erinnern-Dürfen tritt, nicht mehr an Jahr und Tag geknüpft. Wollen den Verwandtschaften und Punkten der Berührung nachspüren und doch, im Eifer des Feierns, die Pfeile nicht vergessen und die Kanten nicht abschleifen. Wollen dem nachgehen, was Pasolini noch vorgehabt hätte und zurückblicken auf das, was an ihm visionär war, kurz: Wir wollen es ihm zeigen! Dem Abgrund der Erfahrungen zum Trotz, der den Künstler und Menschen so oft am Gelingen der Vermittlung zweifeln ließ. Denn im selben Maße, wie er darauf bedacht war, die Leidenschaft zur Sprache zu bringen, lieh er auch der Leidenschaft eine Sprache und führte dadurch beide über das Gewohnte hinaus.

Wie wir es auch drehen und wenden: Pier Paolo Pasolini hat uns ein magmatisches Durcheinander hinterlassen und damit verbunden die Aufgabe, die Fäden zu entwirren und die fruchtbaren Felder herauszupräparieren. Sie wächst mit den Jahren, und mit den Jahren wird sie komplexer. In ihr wiederholt sich, was Pasolini in der Technik der Montage gesehen und mit dem Einschnitt des Todes verglichen hat, nämlich durch nachträgliche Zusammenstellung dauernden Sinn zu stiften. Der Film aber wird nie fertig werden! Damit müssen wir leben.

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Einer der vielen Epiloge

Oh, Ninarieddo, erinnerst du dich an diesen Traum …

von dem wir so oft gesprochen haben…

Ich saß im Auto und fuhr allein los, mit dem leeren

Beifahrersitz neben mir, und du liefst mir nach:

und auf der Höhe der noch halbgeöffneten Autotür

kamst du trotzig und ängstlich angelaufen und riefst mir

mit einem Anflug kindlichen Weinens in der Stimme zu:

„He Pa’, nimmst du mich mit? Bezahlst du mir die Reise?

Es war die Reise des Lebens: und nur im Traum

hast du es gewagt, aus dir herauszugehen und mich um etwas zu bitten.

Du weißt sehr gut, daß dieser Traum zur Wirklichkeit gehört,

und es ist kein geträumter Ninetto, der diese Worte gesagt hat.

Du wirst ja auch rot, wenn wir darüber reden.

Gestern Abend, in Arezzo, in der Stille der Nacht,

während der Wächter mit der Kette das Gitter hinter dir

zuschloß und du schon fast wegwarst

mit deinem Lächeln, plötzlich und komisch, hast du mir gesagt… „Danke!“.

„Danke“, Ninè? Das höre ich aber zum ersten Mal.

Und wirklich, es fällt dir auf, und du verbesserst dich, ohne das Gesicht zu verlieren

(darin bist du Meister), und meinst, scherzhaft:

„Danke fürs Mitnehmen“. Die Reise, die du von mir

bezahlt haben wolltest, war die Reise des Lebens:

Und in diesem Traum vor vier Jahren habe ich etwas beschlossen,

was meiner zwiespältigen Liebe zur Freiheit zuwiderlief.

Und wenn du dich nun fürs Mitnehmen bedankst… Du lieber Himmel,

während du im Kittchen bist, steige ich mit Schrecken in ein Flugzeug

an einem fernen Ort… In Hinblick auf unser Leben bin ich unersättlich,

weil etwas Einzigartiges auf der Welt niemals erschöpft werden kann.

2. September 1969

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„E scriverò all´imperterrito Moravia, una PASOLINARIA / SUI MODI D’ESSERE POETA, con la relazione / tra segno e cosa – e finalmente / svelerò la mia passione.” P.P.P.