Von den „Nützlichen Ruinen“ zum „Guten Traum mit Tieren“ – der ungarische Dichter István Kemény ist wieder zu Gast in Berlin – und gibt einen Ausblick auf seinen neuen Lyrikband, der derzeit von Orsolya Kalász und Monika Rinck aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt wird. Schräg, scheu und kapriziös befragen István Keménys Verse Mythen und Klischees der Moderne auf ihren individuellen Gehalt. Emotionale Ahnungen am Rande des Unausdrücklichen treffen in der frühen Morgenstunde auf die zweifelhafte Eindeutigkeit gesprochener Sprache. Die Gedichte führen ein Gespräch und sie führen es weiter, in die Außenbezirke der Erinnerung, an den Stadtrand, auf den Gipfel der Nähe, die beinahe schon Verlassenheit ist. Mit ihren Gesten des Zuhörens, Aufmerkens und empathischen Weiterspinnens loten Keménys Gedichte das faszinierende Spektrum einer direkten Rede aus, die bei aller Unmittelbarkeit stets auch metaphysische Belange mitreflektiert. So entfalten sie, etwa wenn ihr Autor „die großen Helden von früher“ aufruft oder „Tränen für glücklichere Zeiten“ vergießt, über ihre gestische Qualität auch eine verblüffende epische Tiefe, die mit den geschichtlichen Verwerfungen der Gegenwart in Kontakt steht. Selbst seine jungenhafte Phantastik, die uneitle Selbstbetrachtung und sein leiser Sarkasmus, die gemeinsam die Freiheit des Erfindens zum Äußersten treiben, zeigen, was eine poetische Sprache heute zu leisten vermag, ohne ihr inneres Schweigen zu verraten zu müssen oder äußere Verantwortung abzugeben. Diese Verse werden uns lange begleiten. Ihre Hellsichtigkeit wird sich immer deutlicher zeigen. Da sind wir ganz sicher. Seien Sie da, wo es beginnt!
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Elégiácska
Aki kilőtte, már rég nem él,
a célpont még meg se született.
Nyílvessző süvít át a házon.
Az élményeim keletkeznek,
az emlékeim kárbavesznek.
Mint a kondenzcsík, most kicsit látszom.
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Kleine Elegie
Der, der ihn abschoss, ist schon lange tot,
das Ziel noch nicht einmal geboren.
Der Pfeil saust gerade durch das Haus.
Meine Erlebnisse sind im Entstehen.
Erinnerungen werden sinnlos vergehen.
Wie ein Kondensstreifen sehe ich verschwindend aus.
(Aus: Ein guter Traum mit Tieren, 2015)
© Csapody Kinga
István Kemény, 1961 in Budapest geboren, studierte erst Jura und wechselte dann zu den Studienfächern Ungarische Literatur, Sprachwissenschaften und Geschichte. Schon durch seine Veröffentlichungen Mitte der 80er Jahre wurde er zum geachteten Lyriker seiner Generation. Über Jahre war seine Wohnung Treffpunkt für junge Schriftsteller. Neben zahlreichen Lyrikbänden veröffentlichte Kemény auch Essays, Kurzgeschichten, Drehbücher und Romane. Seine “Gesammelten Gedichte” kamen in Ungarn unter dem Titel Állástalan táncosnő (Tänzerin ohne Engagement 1980-2006) heraus (Magvető, Budapest 2011). Es folgte A királynál (Beim König, Magvető, Budapest 2012). 2010 war er Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nach seinem deutschsprachigen Gedichtband Nützliche Ruinen (Gutleut Verlag, 2007, übertragen von Orsolya Kalász, Monika Rinck, Gerhard Falkner und Steffen Popp) erschien 2013 auch sein Roman Liebe Unbekannte (2009) in deutscher Übersetzung. In der „Spurensicherungs-Reihe” des DAAD erscheint in Kürze der Band Ein guter Traum mit Tieren (Matthes & Seitz). Die deutschen Fassungen stammen, wie schon in der Publikation Dichterpaare: Franz Josef Czernin – István Kemény (Kortina Verlag, 2009), von den Autorinnen Orsolya Kalász und Monika Rinck.
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„Der Körper grinst, allein die Seele / sitzt mal wieder einem Märchen auf“, István Kemény