Nach seinem pfingstwunderlich anspielungsreichen Gedichtband zungenenglisch, visionen, varianten (2014) beschäftigt sich Franz Josef Czernin, der vielleicht kompromissloseste poetische Denker unserer Tage, erneut mit einem berühmten Quelltext: dem 1821/22 entstandenen Winterreise-Zyklus von Wilhelm Müller. Doch bewegten sich die Verse des vorangegangenen Bandes noch weitgehend im Rahmen der Anverwandlung, benennt der Autor seine aktuelle Aufgabe nun kurzerhand als „Verwandlung“. Dieses Verwandeln betrifft einerseits die in den Liedern vorgefundenen Motive, Themen und Gemütszustände – Ausgesetztsein und Todesnähe, Liebe und Scheitern, Schmerz und Verlust -, andererseits beruft es sich, über lexikalische Vorgaben hinaus, auf ein hochdifferenziertes Miteinander aus formalen Kriterien, selbstständigen Findungen und dynamisch aufgefassten contraintes. So üben sich Czernins eigenwillige Variationen, ein fremdes Werk bereisend und zugleich im Rückgriff bereichernd, auf eminent vielstimmige Weise in der Kunst des Verstehens, wobei an der Haltung des Dichters, eigener Neigungen und Zweifel eingedenk, stets auch das Gehör des Lesers partizipiert. Diese musikalische Methode macht an den Wortgrenzen keineswegs halt, sie bringt auch das Unterschwellige und Verschwiegene leise zur Geltung, nimmt von den Unschärfen der Überlieferung Notiz. Den kontrollierten Nachvollzug der Übersetzung hinter sich lassend, behauptet diese skrupulöse Weiterschrift somit ihren eigenen Weltbezug oder weist ihn, im Sinne einer „Poetik der Beständigkeit“, als gedichtgewordenen Rezeptionsvorgang nachdrücklich aus. Wo empirische Bewandtnisse auf literarische Narrative oder Gleichnisse treffen, fungiert die Dichtung als „kommunizierendes Gefäß“ (F. J. Czernin), und jede einzelne Übertragung wirft die Frage nach ihrem übergeordneten historischen Standpunkt auf. Proviant und Gefährtin der beiden Wandersleute ist, im Bannkreis „gepaarter Bahnen“, folgerichtig die Literaturgeschichte selbst, durch die Wilhelm Müllers Lieder, „stets verbrieft an andrer stelle“, schon seit geraumer Weile als Klassiker geistern. Wie es also zugeht, dass die Töne, Noten und Nöte zweier zeitlich voneinander getrennten Autoren sich zu- und gegeneinander bewegen, wie die Praxis der poetischen Verwandlung ein Gedicht aufgreift und aufhebt in einer anderen Möglichkeit, wie ein Gedichtetes umschlagen kann in ein Schicksal und ein Leben sich freiwillig „unter einen poetischen Stern“ begibt, das werden Franz Josef Czernin und Georg Oberhumer in einem für alle Interessierten offenen Poesiegespräch erhellen.
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Gute Nacht
(…)
Die Liebe liebt das Wandern, –
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern –
Fein Liebchen, Gute Nacht!
Will dich im Traum nicht stören,
Wär schad um deine Ruh,
Sollst meinen Tritt nicht hören –
Sacht, sacht die Türe zu!
(…)
Wilhelm Müller
vom andern zum einen
nach mancher weise fernlieb himmelschweifen,
was unter schwellen sanft, gehst raumweit rund:
anverwandelnd uns durchstreifen, insgeheim
im finstern wägen, gleitend über ränder, land
umnachtet tor; deut schliefst verwegen, sand
uns insgesamt verblieb, in schwebe kaum
zur hand: nachtönend liderschwer begreife,
was bewanderst: stelle leiblich dir verschrieb.
Franz Josef Czernin (Aus: Reisen, auch winterlich, 2015)
Franz Josef Czernin, geboren 1952 in Wien, publiziert seit 1978 Gedichte, Prosa, Theaterstücke und Aphorismen. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher Metamorphosen. Die kleine kombinatorische Kosmologie (Droschl, Graz 2012); Zungenenglisch. Visionen, Varianten. (Gedichte), Hanser-Verlag, Wien-München, 2014; Sätze (zusammen mit Hans-Jost Frey, Urs Engeler Editor, Weil am Rhein, 2014); Gedichte. Poetologische Phantasie zur letzten Dingen (Peter Ludewig, Kirchseeon, 2014) sowie der Essayband Beginnt ein Staubkorn sich zu drehn. Ornamente, Metamorphosen und andere Versuche (Brüterich-Press, Berlin, 2015). Franz Josef Czernin lebt hauptsächlich in Reitenegg (Steiermark).
Georg Oberhumer, geboren 1986 in Graz. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, der deutschen Philologie und der bildenden Kunst in Wien. Macht Kunst und publiziert zu experimenteller Literatur. Lebt einstweilen in Berlin.
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„Sagen und zeigen nicht alle Gedichte seit jeher dasselbe? Warum aber sagen und zeigen sie dann wieder und wieder anders?”, Franz Josef Czernin