„WELCHES ERINNERN?“
Gedicht, Gedächtnis, Gemüt

Datum: 08/07/2016

Uhrzeit: 20:00 h

Ort: Das Attico

mit:

Birgit Kreipe und Farhad Showghi

sowie einem musikalischen Beitrag von Aurélie Maurin

Foto: Andreas Wassermann

In ihrem soeben erschienenen Gedichtband SOMA erkundet Birgit Kreipe die Schattenreiche der Erinnerung zwischen Wiederholung und Auflösung, Sediment und Sentiment. Hatte Sigmund Freud die Arbeit des Analytikers mit dem Ausheben von „Mauerresten“, „Bruchstücken“ und „Schriftzeichen“ verglichen, deren Herkunft ergründet und mit Sinn belehnt werden muss, evoziert Birgit Kreipes poetische Archäologie das Bild der Vergangenheit anhand einer Fülle atmosphärischer Splitter. In der Nachträglichkeit des Gedichts entfaltet das Gewesene seine eigene Lesbarkeit und bekleidet sich mit einer zusätzlichen Qualität, der ästhetischen. Jedoch wissen wir überhaupt, was wir in Gang setzen, wenn wir das „Nachtlicht“ der Sprache anknipsen und in uns aufsuchen, was anscheinend vergessen ist? Wie in jeder Analyse führt das Memorieren des Verborgenen auch ein Moment der Erkenntnis im Schlepptau, und die schlummernden Schätze, die der Spaten zutage fördert, tragen ein neues Geheimnis in sich.

Kein Ort übrigens, der für solche Grabungen besser geeignet wäre als die jahrtausendealte römische Metropole, an deren Beispiel Kreipe die Ambivalenzen von Aufdecken und Verstecken exerziert. Denn trägt der Eifer der Archäologin einerseits dazu bei, vormals Verschüttetes freizulegen, ist es andererseits gerade der Zustand des Verschüttetseins, der das kostbare Fundstück womöglich am besten konserviert: „unter der kirche ist noch eine kirche“, „jede schicht ein eigener traum“.

Birgit Kreipe, geboren in Hildesheim, studierte Psychologie und Germanistik in Marburg, Wien und Göttingen und lebt in Berlin. Neben ihrer klinischen Praxis veröffentlichte sie Gedichte in Zeitschriften und Anthologien. Als Einzeltitel sind erschienen: wenn ich wind sage, seid ihr weg (fixpoetry, 2010), schönheitsfarm (Verlagshaus J. Frank, 2012) sowie der jüngste Gedichtband SOMA (kookbooks, 2012).

Die behutsamen Skizzenbücher Farhad Showghis frappieren durch poetische Feineinstellungen in Hinblick auf eine Umwelt, in der nichts Alltägliches mehr selbstverständlich, und nichts Festgeschriebenes mehr eindeutig ist. Mit leisem Nachdruck stoßen sie vor in Wahrnehmungsbezirke, die vielleicht erst durch diesen Versuch oder Aufbruch in den Focus der Aufmerksamkeit geraten, wie um das Wagnis eines Sehens zu unterstreichen, das beim Rätselhaften, Unscheinbaren und Unbestimmten verweilt und dem Zweifelsfall ein Bleiberecht einräumt: „mit den Füßen stimmt etwas“. „Manche Bäume sind Lärchen.“

So wird eine ephemere Begebenheit mitunter erst durch ihre Beschreibung erahnbar, und das Beinahe-Unsichbare erhält durch den diskreten Fingerzeig des Dichters ein überraschendes Gesicht: „Gerade huscht etwas. Ein Das da! Weiter nach vorn. / Hin zur vergehenden Zeit. In dieser entstandenen Situation.“

Farhad Showghi, geboren 1961 in Prag, verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Bundesrepublik und in Iran. Er studierte Humanmedizin in Erlangen und lebt seit 1989 als Psychiater, Psychotherapeut, Autor und Übersetzer in Hamburg. Er veröffentlichte unter anderem die Bände Die Walnußmaske, durch die ich mich träumend aß (Rospo 1988), Ende des Stadtplans (Urs Engeler Editor 2003), Die große Entfernung (Urs Engeler Editor 2008), In verbrachter Zeit (kookbooks 2014), sowie als Übersetzer, Ahmad Shamlu: Blaues Lied. Ausgewählte Gedichte. Persisch und Deutsch (Urs Engeler Editor 2002).

vertrauen, dieses nachtlicht

kaufte ich von einer sehr alten dame.

sie hob die brauen: was, kein schlaf?

dein herz kommt wohl von schlechten vorbesitzern!

stimmt, dauernd wache ich auf und frage:

und die luft? wie kommen wir dazu

uns an ihr festzuhalten?

(Aus: SOMA, kookbooks, 2016)